Maria Rohmer: Liebe Amelie! VIER

Sollen wir das, was wir manchmal als Spinnspaß geschrieben haben, machen? –
Ein Buch mit Auszügen aus unseren Briefen?
Immerhin, geschrieben ist doch schon alles. Bliebe nur das bißchen Arbeit des Sichtens, Sortierens und Zusammenstellens ...
Ja, Amelie, und wie stellst Du Dir das so vor? An wem bitte soll das bißchen Arbeit kleben bleiben?
Laß‘ mich raten ...
Ich hab‘ schließlich Zeit. Der Ehemann wieder mal unanwesend, Nichte und Neffe bis zwanzig nach eins in der Schule, mein Arbeitsplatz . die Drogerie in Holt – nach 50jährigem Bestehen und seit zwei Jahren geschlossen, der kleine Haushalt, die winzige Wohnung, das Manuskript zu meinem dritten Buch fast komplett von der Roh- in die (vorläufige) Endfassung verbracht (die restlichen hundert Seiten erledige ich während zwei oder drei Nachtstunden) – Amelie, Du hast Recht. Der Moment ist – und alle Sterne stehen – so günstig wie nie: Unser Projekt, das könnte ich fix dazwischenschieben.
Wenn der Ehemann erst mal heimkehrt – die vier Monate nähern sich dem Ende -, dann kommt man zu nichts. Aber wem erzähl‘ ich das?!
Und haben wir nicht in einem – wie ich zugeben muß – launigen Augenblick mit fester Stimme der Welt verkündet: WIR MACHEN ES!
Wir machen es, sobald wir alle senkrecht stehenden Deckel in Steilposition aus dem Weg geräumt haben!
Du, Amelie, seit Mittwoch Abend (Du weißt der Mittwoch ist mein Tag), also seit dem Abend, genau seit 20.15 Uhr sieht es so aus, als hätte ich den ersten Deckel beiseite geschafft.

Jedenfalls hab‘ ich mir in genau dem Moment einen neuen, noch nadelspitzen Bleistift und ein Bündel weißes, noch unschuldiges Papier geschnappt, zwei Liter Kaffee aufgebrüht, die Schreibtischlampe angeknipst – und seither sitze ich hier, an meinem kampferprobten Schreibtisch.
Ich bin dabei meinen Teil des Versprechens einzulösen. Da ich nun gerade mal Zeit hab‘ ... Und das Ganze ja eh kurz und bündig werden soll ... Und – im Spinnen sei ich ohnehin TOPP, hat Julian gesagt. TOPP EINS PLUS sogar!

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...Daß sich die operativische Tat im OP-Saal abgespielt hat, weiß ich nun auch – und bin beruhigt.
So auf offenem Gelände? Ich weiß nicht recht. – Ließe sich das überhaupt mit den Grundsätzen der Sterilität vereinbaren? Wird hier wenigstens was von erwähnt und soll wohl auch stattgefunden haben: Sorgfältige Hautdesinfektion mit abschließender steriler Verdeckung des Patienten.
Dann wird im Bericht was erwähnt von Schonung des Samenstranges und der Samenstrangsgefäße, daß sich unmittelbar an der Durchtrittsstelle des Samenstranges was gezeigt haben soll, was ihr nicht hättet finden können.
Du und Assistent A Punkt A Punkt hättet jedoch weiter präpariert, dabei entdeckt, daß bei der Erst-OP etwas verlagert wurde, das ihr nach proximal hin weiter verfolgt habt. (Ich sag’ ja – wohin Deine Neugier Dich eines Tages noch führen wird ... aber das nicht hier an dieser Stelle.)
Übrigens: Das mit der Verlagerung hat man in meinem Inneren bei einer Erst-OP auch schon bewerkstelligt – und die Zweitoperateure hatten dann ihre liebe Not mit der Wiederauffindung relevanter Teilstücke. Wie ist das eigentlich so mit der Kooperation in der Mediziner-Branche? Aber lassen wir das hier an dieser Stelle.
Ihr beide jedenfalls sollt torquiert haben, keinen Anhalt für eine Lücke gefunden-, überstehende Bruchanteile abgetragen-, dann doch wieder Bruchlücken verschlossen und mit Catgut durchstochen haben...

Über Maria Rohmer

Neben dem Schreiben ihrer Seefahrtsbücher "Verheiratet mit einem Seebären" und "Mein Mann? - Der fährt zur See!" veröffentlicht die Autorin und Seemannsfrau Maria Rohmer aus dem Westen nun in regelmäßigen Abständen Auszüge aus dem seit über zwanzig Jahren bestehenden Briefwechsel zwischen ihr, und Amelie, der Ärztin und ehemaligen Seemannsfrau aus dem Osten.