Ralph Ardnassak: ... der kann nicht mein Jünger sein

Abseits der Reaktorblöcke 1 bis 4 waren seit 1981 bereits die Reaktorblöcke 5 und 6 im Bau.
Es war offiziell vorgesehen, dass der Reaktorblock 5 im Herbst 1986 seinen Probebetrieb aufnehmen sollte.
Der Block 6 war im Frühjahr 1986 bereits zur Hälfte baulich fertig gestellt.
Im Kraftwerk waren annähernd 9.000 Menschen beschäftigt.
Der Reaktorblock 1 hatte eine Bruttoleistung von 800 MW. Die übrigen Reaktorblöcke verfügten jeweils über eine Bruttoleistung von 1.000 MW.
Die Leistung der bereits fertig gestellten und in Betrieb befindlichen Reaktoren 1 bis 4 belief sich jeweils auf 3.200 MW.
Nun aber war dort, im Kraftwerk, offensichtlich etwas geschehen, wie man es nicht nur anhand der hektisch fliegenden Schwärme der Hubschrauber, der Kolonnen der Einsatzfahrzeuge und der nicht pünktlich von der Schicht zurück nach Hause kehrenden Mitarbeiter und Angehörigen der Werksfeuerwehr erraten konnte.
Schnell kursierten Gerüchte, es habe im Reaktorblock 4 eine Explosion gegeben, Brände würden durch die Werksfeuerwehr gelöscht und Block 3 sei aus Sicherheitsgründen bereits abgeschaltet.
Es bestünde jedoch keinerlei Gefahr, denn der von der Explosion betroffene Reaktorblock 4 sei intakt und müsse lediglich gekühlt werden.
Dennoch stand seit dem Nachmittag des 26. April, auch für den alten Mann und alle anderen Einwohner der Stadt Prypjat deutlich sichtbar, eine gewaltige schwarze Rauchfahne über der Anlage.
Von zwei gewaltigen thermischen Explosionen im Reaktorblock 4 des Kraftwerks „Lenin“ wusste die Gerüchteküche in der Stadt zu berichten. Von thermischen Explosionen glücklicherweise. Nicht jedoch von nuklearen Explosionen!
Noch immer aber lag der blaugraue Umriss der gewaltigen Anlage im Netz der tausenden und abertausenden von Stromnetzen, die, gespannt zwischen Stahlgittermasten, von ihm ausgingen, als wäre er eine gewaltige rechteckige und jetzt rauchende Spinne, die in ihr Nest eingesponnen war.
Die Einwohner der Stadt begannen, sich um ihre im Kraftwerk befindlichen Angehörigen zu sorgen, wurden allerdings durch die Verlautbarungen der offiziellen Stellen wieder beruhigt.
In der Nähe der Anlage verbreitete sich mit dem Wind jener charakteristische Geruch nach Kohle, wie man ihn auch in U-Bahn-Schächten häufig fand. Ein unheimlicher, stets ein wenig modriger Geruch, einem Kellergeruch nicht unähnlich, der von den Unmengen verbrannten Graphits und verbrannten Graphitstaubs stammen musste.
Wo immer nämlich Graphit verbrennt, riecht es nach verbrannter Kohle.

Über Ralph Ardnassak

1964 geboren in Sondershausen/Thüringen. Studium der Germanistischen Linguistik, Geschichte und Betriebswirtschaftslehre. Seit 2013 freiberuflicher Journalist und Autor. Bisher mehr als 40 Veröffentlichungen (Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichtbände, Kurzgeschichten und Essays).